Ein Arbeitnehmer einer Zeitarbeitsfirma aus Dortmund hat wegen Urlaubs keine Überstunden ausbezahlt bekommen. Der Fall ging bis vor den Europäischen Gerichtshof. Das Urteil könnte Folgen haben.
Unglaublich, aber wahr: Ein Rechtsstreit um 72,32 Euro könnte erhebliche Folgen für Millionen Arbeitnehmer haben – und auch für Gewerkschaften und Unternehmen, die die Mehrarbeit von Beschäftigen honorieren möchten.
Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs erschwere die Gewährung von Boni für Arbeitnehmer in Zukunft deutlich, meint Jens Gursky, Fachanwalt für Arbeitsrecht in der Dortmunder Partnergesellschaft Becker Gursky Verhoeven.
Seine Kanzlei vertritt die Koch Personaldienstleistungen GmbH. Das Zeitarbeitsunternehmen in Dortmund lehnt einem klagenden Arbeitnehmer, der nach Stunden entlohnt wird, die Zahlung von einem Mehrarbeitszuschlag in Höhe von 72,32 Euro ab. Der Kläger hatte in den ersten beiden August-Wochen des Jahres 2017 121,75 Stunden gearbeitet und für die 3. und 4. Woche Erholungsurlaub beantragt und gewährt bekommen.
Dieser Urlaub wurde mit 84,7 Arbeitsstunden bewertet und vergütet. Somit argumentierte der Kläger, die monatliche Schwelle von 184 Stunden überschritten zu haben und deshalb einen Mehrarbeitszuschlag von 25 Prozent pro Stunde verlangen zu können. Der Arbeitnehmer berief sich dabei auf den „Manteltarifvertrag Zeitarbeit“, der in Monaten mit 23 Arbeitstagen ab der 185. Arbeitsstunde diesen Zuschlag gewährt. Zur Begründung führt er an, dass er das zusätzliche Geld erhalten hätte, wenn er normal weitergearbeitet hätte und nicht in Urlaub gefahren wäre.
Die Anwälte des Arbeitgebers, die Kanzlei Becker Gursky Verhoeven, argumentierten dagegen, dass der Wortlaut der Regelung konkret und ganz bewusst von „geleisteten“ Arbeitsstunden spricht. Dies lasse eindeutig erkennen, dass der Mehrarbeitszuschlag nur für eine besonders hohe Arbeitsbelastung gedacht sei. Deshalb bleibe die Urlaubszeit des Klägers bei der Berechnung des Zuschlags unberücksichtigt, da ja während des Urlaubs keine Arbeitsbelastung bestand.
Bundesarbeitsgericht: Arbeitnehmer könnten Urlaub einfach gar nicht nehmen
Die beiden ersten Instanzen, das Arbeitsgericht Dortmund und das Landesarbeitsgericht Hamm, schlossen sich der Auffassung der Arbeitgeber-Anwälte an. Doch das Bundesarbeitsgericht in Erfurt gab zu bedenken, dass die Regelung in der Praxis zur Folge haben könnte, Arbeitnehmer davon abzuhalten, ihren gesetzlich garantierten Mindesturlaub zu nehmen und legte diese Frage dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorab zur Entscheidung vor.
Das Gericht in Luxemburg stellte sich in der vergangenen Woche hinter den Arbeitnehmer. Die hier in Streit stehende Mehrarbeitszuschlags-Regelung sei tatsächlich ein finanzieller Anreiz, in einem Monat, in dem Überstunden geleistet wurden, durchzuarbeiten; mit dem Recht auf bezahlten Jahresurlaub, der der Erholung dient und die Gesundheit des Arbeitnehmers schützt, sei dies nicht vereinbar (EuGH, Rechtssache C-514/20).
Entscheidung des EuGH könnte weitreichende Folgen haben
„Das Verfahren ist allerdings noch nicht beendet“, sagt Jens Gursky, der nun der abschließenden Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts in der Sache entgegensieht. Die Begründung der Europa-Richter möge auf den ersten Blick nachvollziehbar erscheinen, tatsächlich sei sie aber „wenig überzeugend, zu kurz gedacht und für die Praxis ein untaugliches Ergebnis“, so der Fachanwalt für Arbeitsrecht. „Denn letztlich kann man jeder gesetzlichen oder tarifvertraglichen Regelung, mit der ein Arbeitnehmer für Mehrarbeit zusätzlich belohnt werden soll, vorwerfen, dass sie einen wirtschaftlichen Anreiz biete, lieber mehr zu arbeiten als Urlaub zu nehmen.“
Der Fachanwalt wagt die Prognose, dass die Entscheidung des EuGH weitreichende Folgen haben könne. „Denn auch andere Tarifverträge außerhalb der Zeitarbeit sehen vergleichbare Regelungen vor, die europarechtlich nun allesamt auf den Prüfstand gestellt werden könnten.“ Es sei nach seiner Meinung nicht auszuschließen, dass Tarifvertragsparteien künftig davon Abstand nehmen würden, Regelungen zu vereinbaren, die Arbeitnehmer für Überstunden bzw. Mehrarbeit begünstigen.
„So gesehen könnte es sein, dass der Kläger, dem das Bundesarbeitsgericht die 72,32 Euro möglicherweise zuspricht, Millionen tarifgebundener Arbeitnehmern in Deutschland einen Bärendienst erwiesen hat.“